Wissen – Glaube – Bildung

 

Wissen wurde im Mittelalter unter anderen Voraussetzungen als heute gepflegt. Während die Moderne Wissen den Regeln der Vernunft und einer vor allem naturwissenschaftlich geprägten Methodik unterworfen sieht, liefert im Mittelalter die Religion den übergreifenden, erkenntnisleitenden Rahmen, um die Welt zu verstehen. Wissen zu vermehren hieß Gott zu erkennen mit dem Ziel, den Glauben zu vertiefen und dadurch das Heil zu sichern.

Wissen war also ein, vielleicht der wichtigste Schlüssel gerade für mittelalterliche Menschen, um Gott zu verstehen, und damit auch die Schönheit, die Perfektion und die Macht seiner kosmischen Schöpfung zu erkennen. Der Kirche ging es im Mittelalter insofern nicht grundsätzlich darum, die Vernunft des Menschen zu unterdrücken und dadurch den Gehorsam der Gläubigen zu sichern, wie man es in der Aufklärung vielfach wahrnahm.

Vielmehr setzten auch mittelalterliche Gelehrte, die über Jahrhunderte ausschließlich Männer – und auch Frauen – der Kirche waren, den Verstand und nicht nur einen Katechismus ein, um die Welt zu erforschen und dadurch Wissen zu mehren.

Wissen heißt (Ab-)Schreiben

Wissen, wie es im Mittelalter innerhalb der Kirche gepflegt wurde, bedurfte der Schriftlichkeit. Schon die antiken Hochkulturen und insbesondere Griechenland und Rom, die ebenfalls enge Verflechtungen von Religion und Wissen auszeichneten, waren daher nicht zufällig literale Kulturen. Sie beruhten wesentlich auf der Nutzung von Schriftlichkeit. was vor allem auch hieß, dass Wissen mit Hilfe der Schrift gespeichert und verfügbar gemacht werden musste. Deren Erbe trat das christliche Mittelalter an. Ungezählte Rollen und Codizes antiken Wissens wurden vor allem in Klöstern aufbewahrt, abgeschrieben, vervielfältigt und weitergegeben.

Klöster – Orte des Wissens, Orte des Schreibens

Unzählige Mönche und Nonnen schrieben in den Klöstern vieles von dem ab, was der Untergang des Römischen Reiches und seines Bildungssystems übriggelassen hatte – und was die darauf aufbauende christliche Gelehrsamkeit nach und nach an Wissen schuf.

Über Jahrhunderte änderte sich nichts an dieser Praxis: Klöster waren die mit Abstand wichtigsten Orte der Manuskript- bzw. Buchherstellung und damit der Wissensproduktion. Godehard verbrachte den größten Teil seines Lebens in klösterlichen Gemeinschaften, und wohl nicht zufällig zeichnete sich die Klosterstiftung aus Anlass seiner Heiligsprechung, das 1231 gegründete Godehard-Kloster in Hildesheim, durch die Pflege der zeitgenössischen Manuskript- und Buchkultur aus.

Für den Umgang mit der Schriftüberlieferung galt das grundlegende Prinzip: je älter, desto wertvoller. Besondere Autorität genoss den Texten möglichst weit entfernter Jahrhunderte. Daher schätzte man in den Klöstern und Kirchen des Mittelalters auch das Wissen der heidnischen Antike, hütete es in der Regel und gab es weiter. Vor diesem Hintergrund erweist sich die konservatorische Leistung der Klöster gerade an der Epochenschwelle zum Mittelalter für uns heute so überaus wichtig, weil sie dafür sorgten, dass ein erheblicher Teil des antiken Wissensschatzes nach dem Ende des Römischen Imperiums gerettet wurde und bis heute zur Verfügung steht.

 Allerdings war die Haltung der mittelalterlichen Ordensgemeinschaften alles andere als einheitlich oder gar vorbehaltlos einfach. So darf man wohl, je nach Gemeinschaft bzw. innerhalb der Konvente mit durchaus unterschiedlichen Positionen rechnen, von der Bewunderung über den wertneutralen Respekt über eine gewisse Reserve bis hin zur Ablehnung jeglicher Texte, die eine „heidnisch“ geprägte Kultur als intellektuelles Erbe hinterlassen hatte. Umberto Eco hat diesen grundlegenden und nie gänzlich ausgeräumten inneren Konflikt des klösterlichen Bildungssystems im „Namen der Rose“ so unterhaltsam wie treffsicher beschrieben.

Der Klosterschüler Godehard

Godehard war ein Kind des mittelalterlichen Bildungsortes Kloster. Bereits im Grundschulalter wurde er der Schule des Klosters Niederaltaich übergeben, wo sein Vater zum Vogt aufgestiegen war. Nach dem Zeugnis seiner älteren Vita war er ein begeisterter und engagierter Schreiber, der zahlreiche und zugleich qualitätvolle Abschriften theologischer und philosophischer Werke anfertigte, darunter auch eine repräsentative Bibelausgabe für den täglichen Gottesdienst im Kloster.

Während diese Kodizes offensichtlich zu einem unbekannten Zeitpunkt verlorengegangen sind, blieb ein anderer Band erhalten, der Godehard als unmittelbaren Bestandtteil/Mitträger dieser klösterlichen Manuskriptkultur ausweist: eine vermutlich im Kloster Tegernsee angefertigte Abschrift von Rhetorik-Klassikern, darunter „Ad Herennium“, die Godehard wohl in seiner Zeit als Abt in der dortigen Klosterschule für den eigenen Gebrauch anfertigen ließ. Sie wurde noch im Hochmittelalter als Besitz des Hildesheimer Bischofs ausgewiesen und gehörte vermutlich zu den ältesten Büchern, mit denen das Godehard zu Ehren gestiftete Kloster ausgestattet wurde.