Grammatiksammlung

HS St. God 33

Ps. Petrus Helias: Priscianus Metricus cum glossa.

Johannes de Garlandia: De verbis compositis cum commento

Handschrift, Papier; 1408 bzw. 15. Jhd.

 

Diese Handschrift des 15. Jahrhunderts umfasst zwei sprachwissenschaftliche Lehrbücher, den Priscianus Metricus, der lange Petrus Helias zugewiesen wurde, sowie eine Sprachlehre des Johannes de Garlandia.

Der Codex wurde vielleicht im Godehardikloster geschrieben, sicher jedoch dort gebunden.

Der Priscianus Metricus ist eine Grammatik in Versform, die im 13. Jahrhundert entstanden ist und die man später Petrus Helias zugeschrieben hat. Sie umfasst ca. 5.000 Hexameter und war im 14. Jahrhundert weit verbreitet, vor allem im Osten und Südosten des damaligen Heiligen Römischen Reichs. Der Priscianus Metricus fasst den ersten Teil der Institutio grammatica Priscians zusammen. Dieser war ein Gelehrter im Byzanz des frühen 6. Jahrhunderts; mit den Institutiones grammaticae hatte er eine der bedeutendsten lateinischen Grammatiken überhaupt vorgelegt hatte, gemessen an Hunderten von Abschriften in den europäischen Buchbeständen des Mittelalters.

Die zeitweilige Zuschreibung des Priscianus Metricus an Petrus Helias (geb. ca. 1100, gest. 1166) erklärt sich aus dessen wissenschaftlichem Oevre. Dieser war zwischen 1335 und 1160 in Paris als Sprachwissenschaftler tätig. Er verfasste verschiedene sprachwissenschaftliche Werke, u.a. einen Kommentar zu Priscians Institutiones grammaticae.

Petrus‘ Summa super Priscianum fand große Verbreitung. Denn Petrus passte mit seinem Kommentar das spätantike Werk an die veränderte Bildungspraxis des Hochmittelalters an: Bis dahin dominierte Frontalunterricht eines in der Regel klösterlichen Lehrers, der exklusiv für eine kleine Gruppe zuhörender und mitschreibender Schüler und deren Bildungsalltag bestimmt war. Inzwischen erhielten jedoch immer mehr Menschen Zugang zu Schule und Bildung, zumal die ersten Fakultäten bzw. Universitäten entstanden. Damit verloren vor allem die Klöster und Domschulen ihr Bildungsmonopol. Ohne einen sozial eng abgegrenzten Kontext waren die Lernenden nun mehr auf sich gestellt, so dass sie sich den Stoff auch in Eigenverantwortung aneignen mussten.

Petrus Helias begegnete dieser Lernsituation mit einem eigenen pädagogischen Ansatz, dem er den spätantiken Stoff unterwarf. Als ein wichtiges Instrument setzte er eine übersichtliche, straffe und detaillierte Gliederung des Textes ein. Auch fachwissenschaftlich ging Petrus Helias eigene Wege. So setzte er sich sprachphilosophisch mit dem Verhältnis zwischen dem Wort und der Sache, die es bezeichnet, auseinander. Dabei wandte er sich gegen stoische Positionen, wie sie vor allem von Abaelard in aktuellen fachwissenschaftlichen Debatten formuliert wurden. Er vertrat grundsätzlich die Auffassung, dass sich Grammatik unabhängig von (Sprach-)Logik entwickele.

Johannes de Garlandia wird das zweite in dem Godehardi-Codex eingebundene Werk zugeschrieben, ebenfalls ein Sprachlehrbuch. Der auch als Johannes Anglicus, John of Garland und Johannes Garlandius bekannte Autor wurde um 1195 in London geboren und starb nach 1172. Nach einem Studium in Oxford lehrte Johannes an der Universität Paris, wo er im Studentenviertel Clo de Garlande wirkte und nach diesem seinen Beinamen erhielt. Er begründete die Universität Toulouse, wo er zwischen 1229 und 1232 ebenfalls als Lehrer tätig war, bevor er wieder nach Paris ging.

Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte setzte er als Grammatiker und Rhetoriker, seine bevorzugte Ausdrucksform ist der Vers bzw. der Hexameter. Dazu gehört u.a. ein lateinischer Sprachführer, dem Johannes den Titel Dictionarius gab. Damit sollte er den Terminus technicus für ein ganzes „Genre“ schaffen. Dieser war jedoch weniger als Wörterbuch im heutigen Sinn konzipiert, sondern als praktisches Handbuch für den Alltagsgebrauch, versehen mit zeitgenössischem Vokabular sowie situationsbezogenen Redewendungen, die den Leser möglichst schnell zum Sprechen befähigen sollten.

Mehr als 60 Werke werden Johannes zugeschrieben, es erscheint jedoch sicher, dass etliche von Schülern verfasst wurden; diese wurden im Mittelalter breit rezipiert. Besonders Vokabelhefte und Sprachlehrbücher mit einem begrenzten und thematischen fokussierten Umfang wurden stark nachgefragt, gerade auch für den Einsatz im Unterricht. Sie kamen dem zeitbedingt wachsenden Bedürfnis bzw. Bedarf an Sprach- und Sprechfähigkeit bes. unter den Gebildeten entgegen. Denn Bildung wurde vermehrt an den Dom- und Kathedralschulen und darüber hinaus an Universitäten vermittelt, sie blieb daher nicht mehr nur auf Kleriker bzw. die Klerikerausbildung beschränkt. Von den Humanisten wurden diese Lehrbücher jedoch weniger geschätzt; ihnen ging es besonders um die Lektüre bzw. das Verstehen der antiken, klassischen Autoren, während Johannes mit seinen Sprachlehren auf lebendiges Latein zielte.

 

Die Johannes zugeschriebenen Sprachlehrbücher wurden in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts von der Lateinschule in Deventer herausgegeben und kommentiert, u.a. von Johannes Synthen (ca. 1450-1533), darunter die Composita verborum. Um eine Ausgabe dieses Textes handelt es sich bei der Godehardi-Abschrift.

Der Besitzeintrag auf der Rückseite des ersten Blattes weist den Codex insgesamt als Eigentum des Godehardiklosters aus. Wahrscheinlich war der ursprüngliche Besitzer ein Ludolf Hohen … bzw. Hinrich Hildensemensis, wie fol. 198v zeigt. Ob es sich bei diesem Heinrich um dieselbe Person handelt wie Heinrich Zerstede, der das Manuskript laut Explicit fol. 116v am Jakobstag 1408 geschrieben hat, ist wahrscheinlich, aber nicht mit Sicherheit nachweisbar. Der Namenszusatz Zerstede bezieht sich wohl auf die Herkunft aus dem nur wenige Kilometer von Hildesheim gelegenen Sarstedt.

 

 

Das Signaturschild auf dem Vorderdeckel lässt sich nicht eindeutig identifizieren. Es könnte sich um ein „C“ handeln; dies erscheint aus inhaltlichen Gründen jedoch nicht plausibel, weil der Doppelband dann dem Pult bzw. der Nische für zeitgenössische, also scholastische Theologie zugeordnet worden wäre.

Der Codex enthält zwei sprachwissenschaftliche Werke, die eigentlich zu „G“ und damit in die Reihe von profanen Lehrbüchern gehören. Daher ist es nicht unplausibel, dass sich das Signaturschild als „G“ lesen lässt.

 

 

Für Spiegel und Vorsätze des Bandes wurden Fragmente eines Breviers aus dem 13. Jh. eingesetzt, das schon für die Einbindung einer anderen Handschrift des Godehardiklosters verwendet worden ist und die sich ebenfalls in der Dombibliothek Hildesheim erhalten hat (HS St. God 27).